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Recap: „Flucht, Fakten, Fake News? Migration und digitale Medien im gesellschaftlichen Diskurs“

© ECDF/PR/allefarben-foto

Wie verändern digitale Medien den gesellschaftlichen Diskurs über Migration – zehn Jahre nach dem berühmten „Wir schaffen das” von Bundeskanzlerin Angela Merkel im September 2015? Diese zentrale Frage stand im Mittelpunkt der Auftaktveranstaltung der geplanten neuen Diskussionsreihe „Digital Future Democratic Future”, die am 1. Oktober 2025 im ECDF stattfand.  

Die vom ECDF organisierte Veranstaltung wurde von Dr. Fabian Braesemann, assoziierter Forscher am ECDF und Dozent an der Universität Oxford, geleitet. Geladene Keynote-Speakerin war die österreichische Migrationsforscherin PD Dr. Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien. In ihrem Vortrag beleuchtete Kohlenberger verschiedene Aspekte, die den gesellschaftlichen Diskurs zum Thema Migration prägen: gesellschaftliche Ängste, die Realität an den europäischen Außengrenzen, Zusammenhänge mit dem demografischen Wandel sowie den Einfluss digitaler Medien und Künstlicher Intelligenz auf die öffentliche Wahrnehmung von Migration.

Kohlenberger sprach zentrale Aspekte der Migrationsdebatte an. In ihrer Keynote machte sie deutlich, dass trotz sinkender Asylzahlen und vermeintlich erreichter „Kontrolle“ keine wirkliche Entspannung in der Migrationsdebatte zu beobachten sei. Vielmehr gehe es um Gefühle von Zugehörigkeit, Integration und einer wahrgenommenen „Überfremdung“. Es entstehe ein Narrativ von „Wir vs. die Anderen“ und die Frage: „Was macht uns (als Deutsche) aus?“Sie sprach darüber, dass die europäische Migrationspolitik in einer dauerhaften Krise stünde, geprägt von der sogenannte „3A-Asylpolitik“: Abschreckung, Abschottung, Auslagerung. An den Außengrenzen entstehe ein „Souveränitätsspektakel“, bei dem Nationalstaaten ihre Handlungsfähigkeit demonstrieren wollen – mit fragwürdiger Wirkung.

Abschreckung funktioniere selektiv: Besser gebildete Menschen suchten sich andere Ziele, während weniger gebildete Migrant*innen mangels Alternativen eher abgeschreckt würden. Diese Politik führe zu Verlagerungseffekten, einem „Wettbewerb nach unten“ unter den EU-Staaten und letztlich zur Erosion europäischer Solidarität – ein Teufelskreis. Wie viel die GEAS-Reform (z.B. durch faire Verteilung oder Grenzverfahren) daran ändern könne, bleibe unklar. Besonders kritisch bewertete sie die europäische Grenzpolitik, sprach von einer „Politik des Sterbenlassens im Mittelmeer“ und bezeichnete die derzeitige Abschottungspolitik als ein „hungriges Biest“, das vom ständigen Wettbewerb um Härte lebe und das Narrativ der „unkontrollierten Migration“ weiter verstärke. Migration wirke heute als Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Spannungen – verstärkt durch die zunehmende Veränderungsgeschwindigkeit unserer Gesellschaft, etwa in Bezug auf Identitätsfragen. Zudem würden KI und Fake News Mythen und Halbwahrheiten über Migration weiter befeuern, etwa durch manipulierte oder KI-generierte Bilder.

Mit den in der Keynote angeteaserten Punkten ging es im zweiten Teil der Veranstaltung über in eine Podiumsdiskussion mit der Journalistin Ebru Taşdemir (Politik-Redakteurin bei der Freitag) und Wiebke Judith (rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL). Unter der Moderation von Fabian Braesemann beleuchteten die Podiumsgäste, wie Medien und öffentliche Diskurse über Flucht und Migration entstehen, welche Rolle digitale Plattformen dabei spielen – und welche Verantwortung Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Medien tragen, um faktenbasiert und empathisch zu informieren, ohne dabei einseitig zu agieren.

Klar war für alle Podiumsteilnehmer*innen, dass durchaus andere Blickwinkel und Schwerpunkte in die Debatte gerückt werden müssen. Wiebke Judith erklärte: „Ich glaube, dass es für Menschen einen Unterschied macht, ob man sagt: Wir wollen eine vielfältige Gesellschaft sein, oder: Wir müssen eine vielfältige Gesellschaft sein. Wirklich dafür eintreten werden sie nur, wenn sie eine solche Gesellschaftsvision tatsächlich unterstützen. Und wollen alle Menschen in Deutschland noch eine demokratische und vielfälltige Gesellschaft? Das ist natürlich auch eine richtig harte Diskussion.“ Moderator Fabian Braesemann fragte auch nach Einschätzungen zur zukünftigen Entwicklung. Ebru Taşdemir antwortete, dass die politische Kommunikation derzeit so negativ sei, dass sie sie manchmal regelrecht „erschlage“: „Ich wünsche mir eine Entschleunigung. Wir leben in sehr abgedrifteten medialen Bubbles. Früher hatte man ein gemeinsames mediales Bild der Bevölkerung. Dennoch hoffe ich, dass wir positiv in die Zukunft blicken können.“

Das Publikum beteiligte sich aktiv mit zahlreichen Fragen und Beiträgen, die die Komplexität des Themas deutlich machten: von den Realitäten der Integration ehemals Geflüchteter und dem Spannungsfeld von Migration und demografischem Wandel bis hin dazu, wie KI sowohl Dialoge über Migration als auch Migrationsströme selbst verändern könnte. Im Anschluss hatten Diskutant*innen und Teilnehmer*innen bei Snacks und Getränken die Gelegenheit zum persönlichen Austausch und zum Weiterdenken der angesprochenen Themen – ein Zeichen dafür, wie groß das Interesse an einem offenen, informierten Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft über die relevanten und kritischen Themen unserer Zeit sein kann.

Mit Blick auf die gut besuchte Veranstaltung und die dadurch ermöglichten Gespräche mit vielen Teilnehmenden über das Thema Migration zeigte sich Fabian Braesemann erfreut, dass das Interesse zahlreicher Personen geweckt werden konnte. Dies spiegele sich in der Teilnahme von Vertreter*innen verschiedenster Organisationen – von Migrationsforschungsinstituten über die Zivilgesellschaft bis hin zu Studierenden – wider. Dass das Thema offenbar einen Nerv getroffen hatte, zeigte sich auch an der Anwesenheit mehrerer Medienvertreter*innen am ECDF. Die Hauptstadtpresse berichtete über die Veranstaltung, unter anderem in einem Artikel in der Berliner Zeitung

Die Veranstaltung markiert den Auftakt einer geplanten neuen Veranstaltungsreihe am ECDF unter dem Titel „Digital Future – Democratic Future“, welche sich mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung auseinandersetzt. Weitere Veranstaltungen sind bereits in Planung.